Gaël Faye, Petit Pays – Kleines Land

Gaël Faye, Petit Pays – Kleines Land

In meinem letzten Buchbesprechung habe ich Bücher mit Mahlzeiten verglichen. Petit Pays von Gaël Faye ist definitiv schwere Kost. Kommt leicht daher, um dann umso heftiger in den Magen zu fahren!

Gabriel wächst als Sohn eines Franzosen und einer Rwanderin in einem privilegierten Viertel in Burundis Hauptstadt Bujumbara auf; den Nachbarn die Mangos stiebitzen, sich mit der Strömung den Fluss entlangtreiben lassen, in einem Autowrack heimlich Zigaretten und Alkohol ausprobieren … So würde vielleicht eine Kindheit in Frankreich aussehen (mal abgesehen von den Mangos…)

Doch im Dreiländereck Kongo, Rwanda, Burundi sehen Kindheiten anders aus. Noch dazu als Sohn einer Tutsi in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts. Schon Gabriels Mutter war aufgrund rassischer Verfolgung von Rwanda nach Burundi geflohen. Doch auch Burundi ist alles Andere als stabil. Ein stets schwelender Bürgerkrieg mit regelmäßigen Attentaten auf die Machthaber facht den Hass zwischen Hutu und Tutsi immer wieder/weiter an. Die Menschen flüchten, doch sie wissen nicht wohin. 1994 stürzt die Maschine des neu gewählten rwandischen Präsidenten ab. Damit beginnt der größte Völkermord der Geschichte der Menschheit nach dem Holocaust: Er kostet circa 800.000 bis 1.000.000 Menschen das Leben. In annähernd 100 Tagen töten Angehörige der Hutu-Mehrheit etwa 75 Prozent der in Ruanda lebenden Tutsi-Minderheit (wikipedia). Unvorstellbare Grausamkeiten geschehen und die Weltgemeinschaft sieht tatenlos zu. Nicht einmal in Rwanda stationierte Blauhelme greifen ein.

Die gewaltsamen Auseinandersetzungen nehmen auch in Gabriels Umfeld zu. Der Bürgerkrieg findet auch ihn in seiner Sackgasse. Die Menschen bewaffnen sich. Die ersten Ermordeten. Freundschaft definiert sich plötzlich durch Rasse. Kurze Zeit später auch das nackte Überleben.

Gabriels Mutter, die nach Verwandten in Rwandas Hauptstadt Kigali sucht, kommt zwar mit dem Leben davon, wird sich aber von den traumatischen Erlebnissen nicht mehr erholen.

Gabriel entkommt mit knapper Not gemeinsam mit seiner Schwester Ana nach Frankreich. Er (über-)lebt in Paris. Anlässlich seines 33. Geburtstages kehrt er zurück nach Bujumbara, in die Sackgasse wo er einst mit seinen Freunden Streiche ausgeheckt hat. Dort erkennt er in einer Bettlerin seine Mutter…

Letzter Satz:

J´ignore encore ce que je vais faire de ma vie. Pour l´instant, je compte rester ici, m´occuper de Maman, attendre qu´elle aille mieux.

Le jour se lève et j´aie envie de l´écrire. Je ne sais pas comment cette histoire finira. Mais je me souviens comment tout a commencé.

Ich weiß nicht, was ich mit meinem Leben anfangen soll. Für den Moment habe ich vor, hier zu bleiben,  auf Mama aufpassen, warten, dass es ihr besser geht. Der Tag ist vorbei und ich möchte es schreiben. Ich weiß nicht, wie diese Geschichte enden wird. Aber ich erinnere mich, wie alles begann.

Gaël Faye
Petit Pays
Hachette
218 Seiten
2253070440
 

Gaël Faye schreibt einfach. Es sind die faktischen Schilderungen eines Jungens. Seiner nahen Umgebung, der Ereignisse, die ihn direkt betreffen, seine Freude, Ängste, Hoffnungen. Er beschreibt das Unvorstellbare so wie es vor seinen Augen geschieht.

Die Geschichte von Gabriel ist zwar eine fiktive, aber der Autor Gaël (sic!) Faye wird nicht viel erfunden haben müssen. Er war dort 1994.

Faye lebt heute in Burundi und in Frankreich. Als Rapper verarbeitet er seine Erlebnisse auch in seinen Songs. Zu Petit Pays gibt´s ein Lied mit einem sehr eindrucksvollen Video.

Petit Pays ist Gaël Fayes erster Roman. Er wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet wie z.B. dem Prix Goncourt des Lycéens. Ins Deutsche übersetzt wurde er von Brigitte Grosse und Andrea Alvermann. Kleines Land ist 2017 im Verlag Piper erschienen.

Laurent Gounelle – Les dieux voyagent toujours incognito

Laurent Gounelle – Les dieux voyagent toujours incognito

/ein Buch wie eine Psychotherapie/

Laurent Gounelle war ursprünglich Wirtschaftsprüfer. Dass er von zahlenfixierten Sesselpupsern nicht viel hält, merkt frau recht früh in Les dieux voyagent toujours incognito. Der Held – bzw. zunächst noch Antiheld -Alan steht am Eiffelturm und will springen. Ein mysteriöser Fremder hält ihn davon ab und verspricht ihm ein erfülltes Leben. Er müsse sich nur bestimmten Aufgaben stellen. Da Alan ohnehin nichts mehr zu verlieren hat, willigt er ein und begibt sich auf eine Entwicklungsreise, bei der er viele Dinge tun muss, die ihm überhaupt nicht liegen. Manchmal ist das ganz lustig. (Meistens eher nicht.)

Laurent Gounelles Buch lässt mich zwiegespalten zurück. Das Cover sieht aus wie ein Schulbuch für Volkschüler_innen – genauso fühlte ich mich beim Lesen manchmal: geschulmeistert, für ziemlich dämlich bzw. ungebildet befunden. Dennoch habe ich weitergelesen, ein gewisser Spannungsfaktor war da. Vor allem wollte ich hinter Interesse des geheimnisvollen Wohltäters kommen…

Wer an mangelndem Selbstbewusstsein, Unfähigkeit zur Kritik leidet und stets die Bestätigung durch andere sucht, sich aber keine Psychotherapie leisten kann/will, der investiere in dieses Büchlein. Es wird ihm guttun. Mir persönlich kam die Botschaft zu platt rüber. Ich werde nicht gerne für einfältig gehalten. Und der Humor kam auch zu kurz. Allerdings hat sich das Buch in Frankreich großartig verkauft wie auch die anderen Romane von Laurent Gounelle…

Larent Gounelle Les Dieux voyagent toujours incognito
Laurent Gounelle
Les Dieux voyagent toujours incognito
Pocket, 2010
9782266219150
475 Seiten

Auf Deutsch heißt das Buch Gott reist immer icognito und ist im Goldmann Verlag erschienen.

Erster Satz:

La nuit douce et tiède m´enveloppait.

Au revoir là-haut – Pierre Lemaitre

Au revoir là-haut – Pierre Lemaitre

/Leider noch nicht auf Deutsch erschienen, aber unbedingt lesenswert/

Pierre Lemaitre hat für seinen Kriegsroman die höchste französische Literaturauszeichnung, den Prix Goncourt, erhalten. Das war der Grund, mir dieses Buch zuzulegen. Nach dem Cover kann man bei den Franzosen ja nicht gehen: schwarzer Titel auf weißem Grund. Und es hat sich ausgezahlt! Ein tolles Buch, das die Greuel und die ebenso grauenhaften Folgen eines Krieges – in dem Fall des ersten Weltkrieges – anhand weniger Figuren großartig darstellt. Ohne dabei den Humor zu verlieren.

Da gibt´s den ehrgeizigen Kommandanten Henri d´Aulnay Pradelle, der um jeden Preis als Held aus dem Krieg zurückkehren will. Er geht dabei im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen. Und auch nach dem Krieg werden Leichen sein Geschäft sein.

Die einfachen Soldaten Albert Maillard und Edouard Pericourt hat das Schicksal zusammen geschweißt: Bei der Rettung des einen wurde dem anderen das halbe Gesicht weggeschossen.

Und so versuchen sie den Alttag nach dem Krieg zu bewältigen. Der eine kann seinen Panikattacken nur durch das Tragen einer Pferdemaske Einhalt gebieten, der andere ist total abhängig: eineseits von der Pflege seines Freundes, adererseits vom Morphium. D´Aulnay Pradelle wiederum ist gefangen in seiner Familiengeschichte: Er muss viel Geld verdienen, um den Familiensitz zu renovieren. Moralische Bedenken kennt er keine.

Es kommt zwar überraschend, aber letztlich wie es kommen muss.

Die Geschichte ist einfallsreich, spannend, zum Teil richtig lustig. Und ja, auch ein bisserl zynisch.

Au revoir la haut
Pierre Lemaitre
Au revoir la haut
Editions Albin Michel 2013
978-2226249678
Demain j´arrête – Gilles Legardinier

Demain j´arrête – Gilles Legardinier

Ben moi j´ai pas attendu jusqu´à demain…

Falls ihr die Geschichte einer an und für sich sympathischen Frau lesen wollt, die sich für einen Mann zum Deppen macht, bitte. Ich nicht. Schon gar nicht geschrieben von einem Mann. Ist sicherheitshalber auch nicht übersetzt worden…

Gilles Legardinier Demain j´arrete
Gilles Legardinier
Demain j´arrete
Pocket 2013
ISBN 978-2266233040
La vérité sur l´affaire Harry Quebert – Joël Dicker

La vérité sur l´affaire Harry Quebert – Joël Dicker

Nein, nein, die Rezension schreib ich auf Deutsch. Bin ja schon froh, wenn ich noch sinnerfassend lesen kann, der aktive Wortschatz ist schon zu sehr verkümmert.

Ein Roman im Roman über einen Schriftsteller, der einem Schriftsteller zur Hilfe eilt und darüber ein Buch verfasst. Der vielfach ausgezeichnete Schweizer Autor Joël Dicker trägt in La vérité sur l´affaire Harry Quebert dick auf (hallo subtiles Wortspiel ;-), alles ist immer ur: Der ur-erfolgreiche Autor, der in die ur-Schreibkrise gerät, und dann seinen urur-erfolgreichen Mentor besucht, der in einer ur-beschissenen Situation ist. Der ur-unsypathische Cop, der dann eh ur-sympathisch ist und den ur-krisengebeutelten Schrifsteller, der eigentlich ur-gescheit ist, als Co-Ermittler engagiert. Es geht um die – nein nicht ur – sondern ultimative Liebesgeschichte zwischen einem (ur) – und das kommt jetzt auf die Perspektive an – -alten Schriftsteller und einem urjungen Mädchen, das blöderweise ur-tot auf des Schreiberlings Grundstück gefunden wird.

Wenn man die ganzens Urs mal wohlwollend übergeht, entpuppt sich La vérité sur l´affaire Harry Quebert zu einem sehr vielschichtigen Krimi, der einen durchaus fesselt. Fast bis zur letzten Seite tun sich neue Verdächtige auf, die es dann doch nicht (oder schon?) gewesen sind.

Plot 1a. Ein bissl weniger amerikanische Übertreibung zugunsten Schweizer Bodenhaftung hätte dem Buch gut getan. Aber was zählt schon meine bescheidene Meinung, hat der Roman doch die bedeutenden Auszeichnungen „Prix Goncourt des Lycéens 2012“ und den „Grand Prix du Roman“ der Académie Française erhalten. (Und das als Schweizer, bist du deppert!)

Neben der Krimihandlung betreibt Joël Dicker ein bisserl Psychohygiene indem er die profitgeile Bestseller-Maschinerie geißelt und er prangert die Bigotterie der Amerikaner an – ein bisserl Moral muss schon auch sein.

Dennoch nahezu uneingeschränkte Lesempfehlung. Ein guter Krimi mit ein paar amerikanischen Schwächen.

La vérité sur l´affaire Harry Quebert
La vérité sur l´affaire Harry Quebert
Joel Dicker
éditions de Fallois/L’Âge d’homme, Paris/Lausanne 2012
ISBN 9-782877-068161

Gibt´s seit August 2013 auch auf Deutsch unter dem originellen Titel „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ in der Übersetzung von Carina von Enzenberg im Piper Verlag.