Donna Tartt, Der Distelfink

Donna Tartt, Der Distelfink

Ja, ok, es ist nicht besonders originell, einen mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Roman zu loben. Ich will es dennoch tun, denn ich bin wirklich begeistert!

Und das, obwohl ich zunächst skeptisch war. Der Klappentext hat mich eher abgeschreckt als angezogen, auch das Coverbild des Taschenbuchs versprach mehr bildungsbürgerliche Langeweile als packende Story. Doch dann packte es mich doch das Schicksal des Theo Decker und ließ mich über lange Strecken nicht mehr los. Ich gebe zu, manches habe ich nur quergelesen – einerseits weil es zu schmerzhaft, anderseits weil es mir dann doch zu langatmig war. Aber bei über 1.000 Seiten, kann man schon mal großzügig sein…

Ich habe ein intensive Beziehung zu Theo Decker entwickelt. Ich habe seinen russischen Freund Boris zu hassen, aber auch zu bewundern gelernt – dieses Leben am Abgrund, wenn man nichts mehr zu verlieren hat. Ich staunte über Theos Leben als Jugendlicher, wie er zusammen mit Boris in einer unvorstellbaren Einöde am Rande der Großstadt verwahrlost. Wie egal das allen ist. Wie beziehungsunfähig seine „Bezugs“personen sind, und wie sehr er sie trotz aller Vernachlässigung vermisst.

Ich wollte unbedingt, dass sich der junge Mann endlich emanzipiert, sich dieses Bildes entweder bemächtigt oder endgültig entledigt. Ich konnte seine Obsession in keiner Weise nachvollziehen.

Nachfühlbar sind hingegen die drogeninduzierten Räusche und die darauf folgenden Entzugserscheinungen – die abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit (Pleonasmus?), die chemisch ausgewrungene Serotoninspeicher hinterlassen. Wie ein Leben, das so viele Löcher hat, ohne künstliche „Stupfen“ (so hat meine Oma die gestopften Stellen in den Socken genannt), nicht zu bewältigen ist. „Denn dies ist die Wahrheit: Das Leben ist eine Katastrophe.

Das einzig stabile im Leben des Theo Decker sind schöne Dinge: Denn während man beschädigte Möbel restaurieren kann, gelingt das mit Menschen nicht.

„Denn zwischen der >>Realität<< auf der einen Seite und dem Punkt, an dem der Geist die Realität trifft, gibt es eine mittlere Zone, einen Regenbogenrand, wo die Schönheit ins Dasein kommt, wo zwei sehr unterschiedliche Oberflächen sich mischen und verwischen und bereitstellen, was das Leben nicht bietet: Und das ist der beste Raum, in dem alle Kunst existiert und alle Magie.“

Cover Donna Tartt der Distelfink Taschenbuch
Donna Tartt
Der Distelfink
übersetzt von Rainer Schmidt und Kristian Lutze
4. Auflage 2015, Taschenbuch, Goldmann Verlag, 1.024 Seiten
978-3-442-47360-1

Erster Satz

„Noch während meines Aufenthalts in Amsterdam träumte ich zum ersten Mal seit Jahren von meiner Mutter.“