Isabella Straub, Nullzone

Isabella Straub, Nullzone

Pure Sprachlust

Isabella Straub ist eine ehemalige Schulkollegin. Ich liebe ihre humorvollen Facebook-Kommentare, die immer gespickt sind mit (mehr oder weniger) subtilen Grammatik- oder Rechtschreibhinweisen. Und nun gibt es für uns Sprachfreaks gleich einen ganzen Roman 🙂

Die (manchmal zu?) kunstvolle Verstrickung der Schicksale der Protagonistin und Protagonisten der „Nullzone“ ist teilweise (sehr) lustig, teilweise aber auch ernst. Es geht um die Folgen von Gentrifizierung, Working Poor, Migrationsbiografien und transgenerationale Traumata.

In der „Nullzone“ – dem fashionable Neubauprojekt am Stadtrand – begegnen sich der Zukunftsforscher (sic!) Gabor Sperling, der Botenfahrer Rachid und die Hausmeisterin Elfi Hrbala. Jeder von ihnen eine Lieblingszeit: Jene des Zukunftsforschers Sperling ist – no na – das Futurum Exaktum. „In neunzig Tagen werde ich ein anderer Mensch geworden sein.“ Die Hausmeisterin bevorzugt die Gegenwart. Rachid wiederum „mag die Vergangenheit, wenn sie lange vorbei ist, sagen wir: hundertfünfzig Millionen Jahre. (…) Was er nicht leiden kann: die nahe Vergangenheit, vor allem, wenn Daria darin vorkommt.“

Als Sprachliebhaberin verleiht Isabella Straub ihren AkteurInnen einen ganz individuellen Sound. Ob der gelungen ist – z.B. bei Rachid – kann ich nicht beurteilen, weil mir zu fern. Aber ich fand ihn glaubwürdig. (Vielleicht ist es aber nur ein Slang, von dem wir glauben, dass Menschen wie Rachid sich so ausdrücken…)

„Bruder, sag, wann bin ich wieder frei?“ (Capital Bra, Anm.) Darüber muss Rachid nachdenken. Echt jetzt? Bitte das will einfach nicht in seinen Kopf. Einer, der alle Weiber haben kann, also wirklich alle, und dann jammert der herum? Wie lost kann man sein? Das Nachdenken macht Rachid ganz wund im Kopf. In letzter Zeit hat er übelst Probleme sich zu konzentrieren. Kein Wunder, kommt ja immer was dazwischen. Zum Beispiel ein Pling vom Handy.“

Wunderschöne Sprachbilder

Die Figur des Gabor Sperling eignet sich hervorragend, um große Metaphern wie diese unterzubringen: „Wir alle baden im Fluss der Zeit, aber jede Sprache entwickelt ihre eigenen Schwimmbewegungen und drückt damit ihre Haltung zur Welt aus.“

Wirklich lustig

Wer vorzugsweise an öffentlichen Plätzen liest, sollte sich darauf gefasst machen, von Mitmenschen komisch angeschaut zu werden. Ich musste oft richtig laut auflachen. Und das ist man in der Wiener U-Bahn nun wirklich nicht gewohnt!

Sie treffen sich im Antalya Palace. Dort sind die Kebaps groß wie Felgen und schmecken leider auch so, mit viel Dönersoße kriegt man die aber runtergewürgt. Zum Scheißen reicht´s.

Isabella Straub hat einen raffinierten Sprachwitz. Wer ihr auf Social Media folgt, kennt schon die eine oder andere Wortschöpfung. Hier noch so eine Perle:

Solange ihm noch keine Diagnose übermittelt wurde, ist er zugleich gesund und krank. Für diesen Zustand muss dringend ein Wort erfunden werde: Frau Doktor, ich bin krund. Ich bin gesank. Ich bin krand.“

Ich spreche für Nullzone eine absolute Leseempfehlung aus. Es ist eine surreale Geschichte, die ernste Themen humorvoll verhandelt. Menschen, die Sprache als starres Konstrukt sehen, sollten davon Abstand nehmen. SpielerInnentypen hingegen werden ihre Freude daran haben.

Isabella Straub, Nullzone
Hardcover, 372 Seiten
Verlag Elster & Salis GmbH
ISBN 978 3 9505435 7 5

Erster Satz

Gabor Sperlings liebste Zeitform ist die vollendete Zukunft: das Futurum exaktum

Alina Bronsky, Pi mal Daumen

Alina Bronsky, Pi mal Daumen

Ein vorzüglicher Snack, der instant-gute-Laune macht.

Nach „Barbara ist nicht tot“ ein weiterer, heiterer (ha!) kleiner Roman von Alina Bronsky. In in paar Stunden gelesen, Mundwinkel-Gymnastik garantiert 😉 Und das noch dazu mit schweren Themen wie Mobbing, Autismus, Klassismus und Mathematik. Aber Alina Bronsky beherrscht die liebevolle Satire. Ihre schrägen Figuren, voller Macken, Ausfallserscheinungen und abscheulicher Ansichten, haben immer etwas, wofür wir sie dann doch ins Herz schließen müssen.

Mathematik-Snobismus oder Don´t judge a book by it´s cover!

Wenn das teilleistungsbegabte Mathegenie auf die Ghetto-Mama trifft, entsteht zunächst totales Unverständnis: Nicht möglich, dass so jemand dieselben intellektuellen Fähigkeiten haben sollte, wie der überförderte Spross einer adligen Familie. Das kann Gott – sofern es ihn gibt – nicht gewollt haben. Da muss ein Missverständnis vorliegen und Moni Kosinsky gehört doch in der Mensa hinter den Tresen statt davor. Aber die Mathematik schert sich nun mal wenig um die soziale Herkunft (was zu überprüfen wäre…).

Kann man verstehen, muss man nicht

Obwohl sich das Geschehen im Buch sehr häufig um Mathematik dreht, braucht die Leserin keine Kenntnisse, um sich dennoch wunderbar zu amüsieren. Wiewohl ich es schon sehr bewundernswert finde – ein Hoch auf das mathematisch begabte Lektorat! -, wie gekonnt die Autorin (aus meiner Sicht) hochkomplexe Inhalte einflicht.

Ja, ich gebe zu, manchmal wird´s ein bisserl zu wild, zu viel Jeniffer, Justin und Quentin und andere Klischees. Aber so großzügig und -herzig wie Alina Bronsky mit ihren Hauptfiguren umgeht, das können wir uns hier zum Vorbild nehmen und alle ins Herz schließen. Außer vielleicht Pit.

Hochmut und Fall – Demut und Aufstieg

Gute Menschen bleiben gute Menschen selbst wenn sie Gutmenschen genannt werden. Alina Bronsky erzählt die Geschichte von Freundschaften, die eigentlich so nicht vorgesehen sind. Aber vielleicht ist das ja auch nur eine mathematische Gleichung mit sehr vielen Unbekannten, die außer der Autorin noch niemand aufgestellt, geschweige denn gelöst hätte.

Ich fand Pi mal Daumen jedenfalls sehr unterhaltsam. Es hat mir zwei Nachmittage mit einem Lächeln und- teilweise sogar lautem Auflachen in der U-Bahn geschenkt. Danke dafür!

PS: Nein, das Buch hat mich nicht mit der Mathematik versöhnt, aber sie mir ein klein wenig sympathischer gemacht.

Cover des Buches Pi mal Daumen von Alina Bronsky
Alina Bronsky, Pi mal Daumen,
Hardcover, 272 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978 3 462 00425-0

Erster Satz

Als ich Moni Kosinsky zum ersten Mal sah, hielt ich sie wahlweise für eine Sekretärin oder für eine Kantinenfrau, die sich verlaufen hatte.

Max Gross, Das vergessene Schtetl

Max Gross, Das vergessene Schtetl

Auf Empfehlung meiner Lieblingsbuchhändlerin.

Was gut ist am Folgen fremder Empfehlung ist, dass man zu Büchern kommt, die man sonst nie gelesen hätte. Aber natürlich birgt es auch ein ziemliches Risiko! Max Gross´ „Das vergessene Schtetl“ war zumindest so gut, dass ich es zu Ende gelesen habe und jetzt ganz viele jüdische Ausdrücke kenne. Die (im positiven Sinn) sehr eigenartige Geschichte fand ich zunächst recht amüsant. Zum Schluss hin war sie aber schon ein bissl anstrengend.

Der einzigartige Plot

Da wird ein jüdisches Dorf, Kreskol, im polnischen Urwald einfach übersehen. Von allen: Von den Nazis, dann den Kommunisten, den Gojims (Nicht-Juden) – kein Strom, keine Autos, kein Internet. Optionslose Orthodoxie. Eines Tages eskaliert ein Ehestreit und Pescha Lindauer verschwindet. Man schickt den, auf den man leicht verzichten kann: den Außenseiter Jankel Lewinkopf. Jankel erzählt draußen von seinem Schtettl, doch niemand glaubt ihm zunächst. Als Kreskol dann doch entdeckt wird, und die Schutzhülle der Unsichtbarkeit zerbricht, sickert die moderne Welt ein. Kreskol verwandelt sich in ein jüdischen Disneyland. Touristen bestaunen die letzten „echten Juden“. Der Kapitalismus hält Einzug, mit ihm Neid und Missgunst. Die kleine Gemeinschaft spaltet sich… Jankel Lewinkopf irrt in der „echten“ Welt umher und begibt sich auf die Suche seines Lebens.

Jüdischer Witz

Was mich an dem Buch fasziniert hat, war die Begegnung mit dem Judentum, den Begriffen, der Folklore, die sich in geschützten Biotopen entwickelt. Und natürlich, was passiert, wenn dieser Schutz durchbrochen wird.

Manchmal wird es allerdings too much. Da muss man man drüberlesen. Aber als eine Art Fantasy-Schelmen-Roman funktioniert „Das vergessene Schtettl“ ganz gut. Ich mag besonders die Selbstironie – sofern ich sie nicht als solche hineininterpretiere…

Von der Kritik wurde auch mehrfach Gross´ Idee, der Holocaust wäre komplett unglaubwürdig in seiner Monströsität, besonders hervorgehoben. Ich fand das eher irritierend.

Die Frauen kommen alle schlecht weg. Das finde ich schade.

Max Gross übersetzt von Daniel Beskos
Das vergessene Schtetl
Hardcover, 400 Seiten
Katapult Verlag
ISBN 9 783948 923884

Erster Satz

Auch in einer unbeschwerten, friedlichen Stadt wie der unseren ist es möglich, jemanden zu finden, dem man nie wieder begegnen will.

Alina Herbing, Tiere vor denen man Angst haben muss. Die KI rezensiert obwohl sie keine Ahnung hat.

Alina Herbing, Tiere vor denen man Angst haben muss. Die KI rezensiert obwohl sie keine Ahnung hat.

Traue nie der KI!

Ich beauftragte das (bezahlte) AI-Programm Chatpro-Ai mit der Erstellung einer Rezension zu o.g. Buch. Der Prompt (die Anleitung) lautete wie folgt: „Schreibe eine Rezension des Buches „Tiere, vor denen man Angst haben muss“ von Alina Herbing für den Blog https://www.fliederherz.at/category/liest-hoert/“

Das ist das (stark gekürzte) völlig sinnbefreite Ergebnis:

„In Alina Herbing’s (sic!) Buch „Tiere, vor denen man Angst haben muss“ begibt sich der Leser (sic!) auf eine faszinierende und zugleich beunruhigende Reise durch die Welt der Tiere, die oft für ihr abschreckendes Verhalten und ihr furchtbares Aussehen belächelt oder gefürchtet werden. Herbing, die sich nicht nur als Autorin, sondern auch als leidenschaftliche Biologin einen Namen gemacht hat, nimmt uns mit auf eine Expedition, die sowohl lehrreich als auch spannend ist. (…)

Insgesamt ist „Tiere, vor denen man Angst haben muss“ von Alina Herbing ein aufschlussreiches und inspirierendes Buch, das zur Auseinandersetzung mit unserer Wahrnehmung von Tieren anregt. Es ist für alle Naturinteressierten, Tierliebhaber und auch für Menschen, die eher eine Skepsis gegenüber der Tierwelt hegen, uneingeschränkt zu empfehlen sic!). Herbing schafft es, von Angst zu Respekt und Verständnis zu führen, was das Buch zu einem wertvollen Beitrag im Bereich Naturliteratur macht.“

Das sagt die NI

Alina Herbing ist keine Naturwissenschafterin sondern Germanistin und Schriftstellerin. Tiere, vor denen man Angst haben muss ist eine fiktive Geschichte, wenngleich mit autobiographischen Elementen: Herbing ist in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen und ihre Mutter war Leiterin eines Tierheims.

Ja, es geht um Tiere – unter anderem. Aber vor allem geht es um Madeleine, die mit ihrer jüngeren Schwester Ronja und ihrem Eltern Mutter auf einem heruntergekommenen Hof in einem Provinznest in der ehemaligen DDR lebt. Aus dem antikapitalistischen Traum der Mutter wird eine Dystopie für die Kinder. Die Zuwendung der Mutter verschiebt sich mehr und mehr hin zu den verwahrlosten Tieres, die sie bei sich aufnimmt. Zuerst verlässt Vater die Familie. Die Mutter entzieht sich zwar nicht physisch aber psychisch. Madeleine ist auf sich alleine gestellt und muss sich zusätzlich um ihre jüngere Schwester kümmern. Die Natur, die das Haus umgibt und die Tiere, die das Haus bevölkern, rücken ihr zusehends auf den Leib.

Die Rezension der KI wirkt umso absurder als Herbing eher das Gegenteil eines naturwissenschaftlichen Werkes geschaffen hat. Es ist vielmehr eine Fantasie über die degenerative Erkrankung eines Familiensystems, die sich alptraumartig steigert und scheinbar keinen Ausweg offen lässt.

Persönliches Fazit

Ich finde, es ist ein gutes Buch, wenngleich mich das Thema nicht abgeholt hat. Wenn schon Fantasy, dann mit Feen und Zauber:innen 🙂

Cover von Tiere, vor denen man Angst haben muss
Alina Herbig
Tiere, vor denen man Angst haben muss
Hardcover, 256 Seiten
Arche Verlag
ISBN 9783716028186

Erster Satz

Meine Mutter hatte mich nicht eingeschlossen.

Drei Frauen über und als Mütter

Drei Frauen über und als Mütter

Sandra Gugić, Zorn und Stille
Andrea Roedig, Man kann Müttern nicht trauen
Isabel Allende, Violeta

Die Lektüre dieser Bücher hat wieder einmal vor Augen geführt, wieviel Glück ich mit meiner Mutter (und auch mit meinem Vater) hatte. Ich bin ihr so dankbar, dass sie mich so bedingungslos geliebt hat. Und das, obwohl sie selbst viel Gewalt in ihrer Kindheit und Jugend erfahren hat.

Darüberhinaus bin ich dankbar, dass ich in ein Land geboren wurde, in dem mich weder Krieg noch Not zur Flucht zwingen. Flucht ist immer auch Trauma. Die einen bewältigen es besser, die anderen schlechter. Und Fremdsein ist nur als Touristin ein angenehmer Zustand.

Toxische Männlichkeit in all ihren Ausprägungen spielen in allen (tragischen) Familiengeschichten eine wesentliche Rolle – selbst in „Man kann Müttern nicht trauen“. Diese autofiktionale Geschichte über den Zerfall einer Frau und damit aller Beziehungsgeflechte und Sicherheiten für die Kinder, ist die erschütterndste Erzählung. Vor allem, da sie aus der Perspektive des Kindes erzählt wird. Wie sehr sich die kindliche Liebe strapazieren lässt, wieviel Hoffnung auf ein wenig Zuwendung auch nach vielen Enttäuschungen vorhanden ist! Doch Roedigs Mutter ist dazu nicht fähig und diese Unfähigkeit Zurechtzukommen wird im Alkohol ertränkt.

Welchen Kraftakt es braucht, um da rauszukommen, kann ich mir gar nicht vorstellen.

Und dann ist das Herz. Wir spielen abends an einem Gasthoftisch Karten, Mau-Mau oder Ähnliches, und weil mir die Frabe fehlt, lässt Lilo (Anm.: die Mutter), diesen Satz fallen zu mir, im Spiel, im Ernst: „Du hast kei Herz net?“ Das trifft mich tief, es erschreckt mich, als wäre ich ertappt worden, ich lese das als klaren Vorwurf von ihrer Seite. Mutter und Tochter, hier ist die Grenze. Es fühlt sich an, als prallte da etwas zusammen, etwas in ihr und etwas in mir, das eine Mauer bildet, die zwischen uns steht.

Sandra Gugić, Zorn und Stille

Sandra Gugićs Familiengeschichte ist wesentlich distanzierter. Sie wird aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Aus der Sicht der Mutter, der Tochter und des Vaters. Eine serbisch-stämmige Familie, die Eltern sind nie wirklich in ihrer neuen Heimat angekommen. Auch sie geben ihre Traumata an ihre Kinder weiter. Diese entwicklen ganz unterschiedliche Strategien, damit umzugehen. Reden-schweigen; nehmen-geben; gehen-bleiben, gemeinsam-alleine. Die Figuren zerreissen und müssen sich neu zusammensetzen. Kann das gelingen? Und wenn ja, wie? Und was bleibt dabei auf der Strecke?

Es gibt einen Raum, in dem niemand im Besitz der Wahheit ist und jeder das Recht hat, verstanden zu werden.

Isabel Allende, Violeta

Stilistisch vielleicht das schwächste der drei Bücher, dafür eine mitreißende Geschichte erzählt von einer Frau, die hundert Jahre südamerikanische Geschichte erlebt hat. Und die zeigt, dass man auch im hohen Alter noch gescheiter werden kann. (Meine erste Allende, aber sicher nicht meine letzte.)

Bild von drei Büchern von Frauen
Sandra Gugić, Zorn und Stille, Hoffmann und Campe, 238 Seiten, 978-3-455-00976-6
Andrea Roedig, Man kann Müttern nicht trauen, dtv, 238 Seiten, 978-3-423-29013-5
Isabel Allende, Violeta, übersetzt von Svenja Becker, Suhrkamp, 400 Seiten, 978-3-518-43016-3

Erster Satz Zorn und Stille

Es geht hier nicht um mich.

Erster Satz Man kann Müttern nicht trauen

Man kann Müttern nicht trauen.

Erster Satz Violeta

Mein geliebter Camilo, mit diesen Seiten möchte ich dir ein Zeugnis hnterlassen, weil ich mir vorstelle, dass dich in ferner Zukunft, wenn du alt bist und an mich denkst, Dein Gedächtnis womöglich im Stich lässt, denn Du bist zerstreut, und mit den Jahren wird das nicht besser.

Olga Tokarczuk, Gesang der Fledermäuse

Olga Tokarczuk, Gesang der Fledermäuse

Vielen Dank für die Empfehlung (und die Leihgabe) an Ines.

Den Roman einer Nobelpreisträgerin zu loben, könnte Eulen nach Athen tragen bedeuten. Doch ich habe bisher noch nie eine dermaßen prominent ausgezeichnete Autorin* besprochen. Die meisten sind mir – Achtung Triggerwarnung für Bildungssnobs – zu anstrengend. Oder sie wurden mir in der Schule vermiest. Oder es sind Männer, denen ich keine zusätzliche Aufmerksamkeit mehr schenken will, da ich keinen Beitrag mehr zum Genderbias leisten will. (A propos Genderbias: Stell dich doch mal vor dein Bücherregal und zähle, wieviele weibliche und wieviele männliche Autor:innen vertreten sind…)

Warum es der Gesang der Fledermäuse in meinen Blog geschafft hat (ich bin mir der Selbstüberschätzung dieser Formulierung durchaus bewusst), liegt schlicht daran, dass es mich wirklich gut unterhalten hat: Ein spannender Plot (wobei „ungemein spannend“ wie am Buchrücken beschrieben, halte ich für übertrieben), eine großartig verschrobene Protagonistin, Gedanken, die zwischen Witz und Weisheit oszillieren. Nahezu auf jeder Seite ein Satz, den man jemandem vorlesen (was schwierig ist angesichts der Tatsache, dass ich immer abends im Bett lese, wenn mein Mann bereits schläft…) oder zumindest unterstreichen möchte.

„Viele Männer erkranken mit fortschreitendem Alter an Testosteron-Autismus, was mit einem langsamen Schwinden der sozialen Intelligenz und einem zunehmenden Unvermögen, was zwischenmenschliche Kommunikation betrifft, einhergeht und auch das Formulieren von Gedanken beeinträchtigt.“

Zunächst dachte ich, Olga Tokarczuk käme aus der Ukraine. Die Szenerie erinnerte mich stark an Tanja Maljartschuk. Doch Tokarczuk kommt aus Polen. Dort spielt auch Gesang der Fledermäuse. Am Hochplateau, an der polnisch-tschechischen Grenze, wo auch die Autorin ihre Sommer verbringt, lebt Janina Duszejko. Die (ehemalige) Lehrerin widmet sich der Astrologie (das sind die Teile des Buches, die ich am wenigesten mochte) und den Werken des Dichters William Blake. Sie hütet die Häuser der Städter:innen, die nur im Sommer die Kühle dieses abgeschiedenen Ortes genießen. Janina ist alt, wie alt erfahren wir nicht. Obwohl sie die Natur liebt, leidet sie unter ihr: Im Sommer plagt sie eine Sonnenallergie, im Winter der grimmige Wind. Dennoch streift sie stundenlang umher, beobachtend, ja fast lauernd, wie die Jäger, die Janina ob ihrer Grausamkeit verachtet. Sie selbst zieht der Gesellschaft der Menschen – nur wenige lässt sie an sich heran – jene der Tiere vor. Als ihr Nachbar, den sie Bigfoot nennt, eines grausamen Todes stirbt, muss sie sich allerdings genau unter jene mischen, die sie zu vermeiden sucht. Ihre Begegnungen mit den Männern der Umgebung entblößt eine Welt der Ignoranz, der Respektlosigkeit und der Korruption. Man versteht immer besser, warum das karge, einsame Leben eine wohltuende Alternative darstellt. Aber wie lange, wird es diesen Außenseiter:innen gelingen, ihre Lebensweise beizubehalten? Haben sie eine Wahl oder ist ihr Schicksal nicht ohnedies von den Sternen vorgezeichnet?

„Der riesige Baum, schief und löchrig, steht schon seit Jahrhunderten und ist nicht gefällt worden, weil man nichts und wieder nichts aus ihm hätte machen können. Dieses Beispiel sollte diejenigen ermutigen, die so sind wie wir. Jeder kennt den Gewinn, den er aus dem Nützlichen ziehen könnte, aber keiner kennt die Vorteile des Unnützen.“

Mit Gesang der Fledermäuse stellt Olga Tokarczuk unter Beweis, dass ausgezeichnete Literatur auch unterhaltsam sein darf. Große Leseempfehlung!

Olga Tokarczuk
Gesang der Fledermäuse
Übersetzt von Doreen Daume
Kampa Pocket, 308 Seiten 978 3 311 15003 9

Erster Satz

„Mein Alter und auch mein Zustand erfordern es mittlerweile, dass ich mir vor dem Zubettgehen ordentlich die Füße wasche, für den Fall, dass ich in der Nacht von einem Krankenwagen abgeholt werden muss.“

*Männer sind mitgemeint.

Nell Leyshon, Ich, Ellyn

Nell Leyshon, Ich, Ellyn

Glücklicher Spontankauf in einer Buchhandlung in Buxtehude (sic!).

Ein ganz ungewöhnliches Buch, das mich durch sein wunderschönes Cover zum Kauf verführt hat (eine feine Strichillustration, der Titel in Sonderfarbe drucklackiert ==> da kann die Werberin in mir unmöglich widerstehen!) und ein echter Glücksgriff!

Ellyn ist ein einfaches Bauernmädchen. 16 Jahrhundert in England. Mit ihrem behinderten Vater, ihrer Mutter, ihrem Bruder und der neugeborenen Schwester Agnes lebt sie in einer Hütte. Arbeit, Gewalt, Dreck, Hunger bestimmen ihr Leben. Eine scheinbar ausweglose Situation.

Ellyns Ausdrucksmöglichkeiten sind stark eingeschränkt. Dennoch spürt sie, dass „da“ noch mehr ist, als das Melken der Kuh, die Versorgung des Vaters, die (sexuellen) Übergriffe des Bruders, die blinde Schicksalsergebenheit der Mutter. Ellyn ist stark, das weiß sie. Und begabt, das wird sie erst entdecken.

Nell Leyshon lässt Ellyn in ihrer einfachen Sprache erzählen. Ohne Groß- und Kleinschreibung, ohne Punkt und Komma: der wilde Gedankenstrom eines Mädchens, das nicht viele Worte hat – und erst recht keine schönen – um zu verbalisieren, was es fühlt.

meine augen schließen sich und ich allein und alles tut weh aber ich hab mein schmutzigweißes an und es kommt immer noch licht durch die ritze und ich schau raus zum himmel der sich verändert und in meinem kopf drinnen hab ich soviel gedanken sie sind wie vögel über feld bei ernte

Um das, was da in ihr ist zu entfalten, muss Ellyn ihre Umgebung verlassen, zu jemandem anderen werden. Die Schmerzen, die sie dafür auf sich nimmt, ist sie gewohnt.

Mit Ellyns Entwicklung, verändert sich auch ihre Sprache. Sie lässt das Vertraute hinter sich, entdeckt neue Welten, neue Klänge, neue Worte. All das gelingt ihr nur, weil sie bereit ist, sich selbst zu verleugnen.

Cover des Buches Ich, Ellyn von Nell Leyshon
Nell Leyshon
Ich, Ellyn
Übersetzt von Wibke Kuhn
Eisele Verlag, 223 Seiten
978-3-96161-129-4

Ich, Ellyn ist eine besonders schmerzhafte Coming of Age Geschichte aus einer Zeit, in der Arme keine Chancen hatten. Und arme Frauen erst recht nicht.

Ohne es zu wissen, hab ich mir einen feministischen Roman gekauft. Spannend, rührend, in einem Stil, den ich so noch nirgendwo anders gelesen habe. Große Empfehlung!

Erste Sätze

fangen wir an
ich weiß´ sist früh denn es ist stille es ist dunkelheit
und dann kommt au dunkelheit schrei

Nick Hornby, Just like you

Nick Hornby, Just like you

Eine Gastrezension von Martina Parker

Damals habe ich Hornby geliebt. “High Fidelity”, “About a boy”, “Miss Blackpool”. Alles auf Englisch. „Just like you“ war das erste seiner Bücher, das ich auf Deutsch gelesen habe. Also bis zur Hälfte. Danach konnte ich nicht mehr und habe mir das E-Book in der Originalfassung gekauft. Grund: Die deutsche Übersetzung wurde seinem Schreibstil einfach nicht gerecht. Passagenweise hatte ich sogar die Vermutung, das Buch wäre mittels Schreibprogramm übersetzt worden. Oder wissen Übersetzer:innen heute wirklich nicht, dass das britische Pudding für jede Art von Nachspeise steht und nur in den seltensten Fällen für einen Pudding im klassischen Sinn?

Nun in der englischen Fassung schimmert Hornbys berühmter Wortwitz stellenweise durch.  Was mich aber etwas ratlos zurückgelassen hat, sind die farblosen Charaktere.

Der Plot: geschiedene weiße Lehrerin, Anfang 40, verliebt sich in schwarzen Aushilfsfleischverkäufer und Babysitter Anfang 20. Neben dem deutlichem Altersunterschied und der verschiedenen Hautfarben, werden auch die unterschiedlichen Bildungsklassen und vor allem die gegensätzlichen Standpunkte zum Brexit thematisiert.

Allerdings geht keiner dieser Konflikte tiefer. Die Figuren bringen ihre Standpunkte vor, diskutieren Brexit und Trump, bringen Pro und Kontra Argumente für dies oder jenes,  aber das ist es auch schon.

Auch die beiden Hauptprotagonisten werden für mich nicht greifbar. Vielleicht ist Hornby als weißer Mann einfach nicht der Richtige, um sich in die Gefühlswelten zweier Figuren zu versetzen, mit denen er sich nicht identifizieren kann. Beide bleiben scherenschnittartig und eindimensional, ihre Gedanken werden vom Autor kaum analysiert.

Lucy, die Lehrerin nimmt Joseph den jüngeren Liebhaber jede Nacht zum Netflixen und Chillen nach Hause. Hat sie nie Angst, dass ihre Kinder aufwachen und sie dabei erwischen? Das hat sich der Lektor wohl auch gefragt, denn irgendwann später erfahren wir dann: Die Kids wussten eh Bescheid, haben aber nie was gesagt. Aha.

Etwas später beherbergt Lucy Joseph und seine neue Freundin in ihrem Ferienhaus. Sie gibt sich cool, souverän und verständnisvoll. Aber was geht wirklich in der Frau vor, wenn der ehemalige Lover mit der Neuen im Nebenzimmer zur Sache geht?

Und was die Brexit-Debatte anhört. Auch da hören sich die beiden einfach brav die jeweils anderen Standpunkte an. Echte Emotionen kommen nicht auf. Nachdem ich englische Freunde und Verwandte habe, kann ich aus Erfahrung sagen, die Realität sah anders aus. Die Brexit-Debatte wurde genauso emotional geführt wie aktuell die Covid-Impf-Debatte und hat Familien und ehemalige Freunde für immer entzweit.

Aber nicht nur die Aversionen, auch die Liebe zwischen Lucy und Joseph waren für mich nicht spürbar. Es gab nichts, was darauf hindeutete, dass sie sich besonders gern hatten, als sie schon eine Beziehung hatten, es war nicht klar, was sie zusammenhielt und auch wie es mit ihnen in Zukunft weiter geht, ist mir ehrlich gesagt egal.

Nick Hornby
Just like you
übersetzt von Stephan Kleiner
Kiepenheuer & Witsch, 384 Seiten
978-3-462-00039-9

Martina Parker ist Autorin, Journalistin und Texterin. Ihr erster Roman „Zuagroast erschien diesen Sommer im Gmeiner Verlag und wurde auf Anhieb ein Bestseller. Der zweite Teil der Gartenkrimisaga heißt „Hamdraht“ und erscheint am 9.3.22

Auf den Facebook und Instagram Seiten martina parker schreibt können Social Media User Martina bei ihren Schreibprozessen begleiten und jeden Montag über Handlungsstränge mitabstimmen. 

Infos: www.martinaparker.com

Dörte Hansen, Mittagsstunde, gelesen von Hannelore Hoger

Dörte Hansen, Mittagsstunde, gelesen von Hannelore Hoger

Dörte Hansen ist eine Sprachmalerin. In ihren Geschichten passiert nicht viel. Die Menschen leben ihr ganz normales Leben auf (sic!) dem Dorf. Und obwohl nichts Außergewöhnliches geschieht, macht es große Freude der Story zu folgen! So auch Mittagsstunde: Hansen erzählt die Geschichte der Familie Feddersen und des langsamen Untergangs ihres Bauerndorfes in Ostfriesland.

Hansen entwirft ein wunderbares norddeutsches Stilleben. Kauzige Charaktere, verschliffen vom stets wehenden Wind auf der Geest. Eine großartig biedere Geschichte, mit all den kleinen Tragödien, den Liebesgeschichten, den Enttäuschungen und Hoffnungen, die so ein normales Leben nun mal mit sich bringt. Und schicksalsergebene Toleranz und Langmut bis zur Unaushaltbarkeit.

Das Plattdeutsch, das immer wieder vorkommt, muss man nicht verstehen. Es bildet den rauen Soundtrack. Vielleicht als Kontrast zu den stets präsenten picksüßen deutschen Schlagern …

Die Vorleserin, Hannelore Hoger (bekannt aus dem Fernsehen als „Bella Block“), schnarrt den Text mehr als sie ihn spricht. Sie ist total authentisch, sie spricht – in meinen Ohren – originales Plattdeutsch. Englisch liegt ihr weniger 😉 Als läse sie den Text zum ersten Mal, schleicht sich in ihre Stimme immer dann ein Lächeln, wenn der Text witzig wird. Manchmal liest sie so monoton wie ich mir das flache – flurbereinigte – Ostfriesland – vorstelle.

War ich von „Altes Land“ schon begeistert, so hat mich Dörte Hansen einmal mehr beeindruckt mit ihrem großen Repertoire an überraschenden Sprachbildern. Elf Stunden, in denen nichts passiert, und einem dennoch nie langweilig ist!

Hörbuch Mittagsstunde mit Preisangabe von € 22,70

Angelika Waldis, Ich komme mit

Angelika Waldis, Ich komme mit

Leben ist, wenn man Sterben das Letzte findet.

Komisch: Der zweite Roman en suite bei dem es ums Sterben geht?! Ich fand Wissers Königin der Berge wirklich gut. Aber Ich komme mit liegt mir viel mehr. Vielleicht weil es von einer Frau geschrieben wurde…

Ähnlich wie Wisser, hat Angelika Waldis ein sehr entspanntes Verhältnis zur Sprache. Sie erfindet Wörter, schreibt ein-Wort-Sätze. Hört mittendrin auf, wenn etwas nicht sag-/schreibbar ist. Je mehr es dem Ende zugeht, umso reduzierter wird das Gesagte. Manchmal schlägt das Schweizerische durch. Das fühlt sich dann komisch an.

Vita ist 72. Sie ist des Lebens ein wenig müde. Ihr Sohn lebt weit weg in Australien und meldet sich fast nie. Ihre Füße schmerzen. Sie ist einsam. Lazy, ihr Nachbar, ist grad mal 20. Außer Grüßen am Gang, „Alo Maier“, verband sie bisher nichts. Doch das ändert sich, als Lazy die Diagnose Leukämie bekommt. Vita nimmt Lazy bei sich auf. Sie planen eine (letzte?) große Reise.

Humor, Komik, Poesie, Banalität. Waldis schaukelt uns sanft dem Ende entgegen. Zwischen schmutziger Wäsche und Marillenkuchen haut sie uns Aphorismen um die Ohren “ Das Leben ist wie ein Geschenk. Man kanns nur einmal auspacken. “ Sie gibt (Mausi) und sie nimmt (Ausi).

Manches ist mir zu „Faust-aufs-Aug“ wie zum Beispiel dass die Protagonistin Vita heißt. Vita Maier. Das normale Leben quasi. Oder Aydan, die Schöne Tochter des Taxifahrers, die vom Mond kommt.

Ich komme mit erinnert mich ein bisschen an Mariana Leky, Was man von hier aus sehen kann. Es hat auch so einen heiteren Grundton, einen schrägen Humor, einen – grundlosen? – Optimismus.

Jedenfalls mag ich Bücher, bei denen es ums Sterben geht und ich nicht weinen muss (wobei eich bei Mariana Leky schrecklich geplärrt habe!). Eine unbedingte Leseempfehlung für Jung und Alt und sehr Alt.

Mein Lieblingsbuch 2018.

Danke an Sonja Franzke für die Empfehlung!

Angelika Waldis
Ich komme mit
Verlag Wunderraum
224 Seiten
9783336547975

Erster Satz:

Gott, hast du mich erschreckt!

Übrigens auch optisch ein sehr schönes Buch!